"Streng genommen gibt es keine anonyme Beerdigungen"

Abends an Allerheiligen werden wieder hunderte von Kerzenlichtern eine ganz besondere, fast unreale Stimmung auf allen Brühler Friedhöfen schaffen. Ansonsten wird das Thema "Sterben und Tod" im alltäglichen Leben und in unserer Kultur immer mehr ins Abseits gedrängt.
 
Es scheint für das Thema keinen Platz mehr in unserer materialistisch-orientierten Gesellschaft zu geben. Wir schweigen es sprichwörtlich tot und vertrauen derweil lieber auf eine Lebensverlängerung durch moderne Gerätemedizin und Pharmaforschung. Mit der Ignoranz wird aber gleichzeitig auch die unterschwellige Angst vor Krankheit, Sterben und Tod immer größer. Statistisch gesehen werden wir zwar älter als je zuvor, doch zu welchem Preis? Entspricht Lebensqualität tatsächlich einer Quantität in Lebensjahren?
 
Unser gesellschaftliches Leben und Denken, unsere wirtschaftlichen Gegebenheiten und unsere Sozialsysteme befinden sich in einem großen Wandel. An Stelle der traditionellen Großfamilien gibt es heute Patch-work-Familien und Single-Haushalte. Im Beruf wird immer mehr die Bereitschaft zur Mobilität vorausgesetzt. Staatliche Sozialleistungen werden wegen der schwindenden Anzahl von Beitragseinzahlern und einer höheren Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung gekürzt.
 
Der Kostenaspekt im Einklang mit dem Begriff des "Sparen" spielt in unserem alltäglichen Leben mittlerweile die größte Rolle. Inwieweit dies unser individuelles Gefühlsleben, unsere moralischen und ethischen Grundsätze tangiert, kann nur jeder für sich selbst beantworten. So wie auch jeder von uns irgendwann persönlich mit dem Thema "Krankheit, Sterben und Tod" konfrontiert werden wird.
 
2005 gab es 480 Beerdigungen Die meisten Menschen verdrängen das Thema, einige aber stellen sich ihm. Weil sie es von Berufs wegen müssen oder weil sie das Bedürfnis verspüren, sich in diesem Bereich zu engagieren. Manchmal kommt auch beides zusammen. Wir haben uns im Verwaltungsgebäude des Brühler Südfriedhofs an der Bonnstraße mit ihnen getroffen. Der Gesprächsrunde gehörten der katholische Pfarrer Thomas Iking, die Hospiz-Koordinatorin Beate Geske, der Friedhofsverwalter Michael Kurth sowie der Fachbereichsleiter der Stadt Brühl, Christoph Reuter, an.
 
Im Jahr 2005 fanden in Brühl auf den sechs Friedhöfen (Schwadorf, Badorf, Pingsdorf, Nord, Vochem und Süd) insgesamt 480 Beerdigungen statt. Das bedeutet statistisch, dass im Schnitt in jeder Woche neun Verstorbene beigesetzt wurden. Jeder Verstorbene hatte seine eigene Geschichte, fast alle hinterließen Angehörige und Freunde, die nicht nur den schmerzlichen Verlust verarbeiten, sondern auch Entscheidungen treffen mussten, deren Tragweite ihnen erst später bewusst wurde.
 
BBB: Unsere Gesellschaft wird immer anonymer, die traditionelle Familie wird immer seltener. Die Zahl der anonymen Bestattungen nimmt zu. Haben Sie in Ihrer Hospiz-Arbeit auch diesen Trend feststellen können?
Beate Geske: Ja. Wir hatten erst vor kurzem eine Veranstaltung zu dem Thema "Anonyme Bestattungen", die sehr gut besucht war. Die Trauerhalle war voll, und die Leute blieben bis zum Ende. Das ist ein Thema, das die Menschen beschäftigt. Mir ist ein Zitat im Gedächtnis geblieben, das stellvertretend für den Wunsch von vielen steht: Ich möchte gerne anonym beerdigt werden, aber irgendwo soll mein Name stehen.
 
BBB: Was sind die Beweggründe für die Menschen, sich für eine anonyme Bestattung zu entscheiden?
Geske: Nach unseren Erfahrungen spielen die Kosten auch eine große Rolle. Aber viele wollen anonym beerdigt werden, weil sie den Kindern nicht zur Last fallen wollen. Die Kinder wohnen vielleicht noch weit weg. Bei anonymen Bestattungen wird nicht die Frage nach der Beteiligung der Kirche gestellt. Andere Nöte sind ausschlaggebend. Die Frage nach der Grabpflege etwa.
Dechant Thomas Iking: Je mobiler die Gesellschaft wird, je weniger werden die traditionellen Bräuche gepflegt. Und das hat sich noch einmal beschleunigt. Die Industrialisierung der Bestattungen nimmt zu.
 
BBB: Diese Entwicklung wird Ihnen nicht gefallen. Wie erklären Sie sich den Trend zur anonymen Bestattung?
Iking: Streng genommen ist es ja kein anonymes Grab. Die Trauergesellschaft zieht auf das Feld und weiß ungefähr, wo sich das Grab befindet. In der Realität werden auf diesem Feld Kerzen aufgestellt. Das ist der sicherste Beweis für die These, dass viele Menschen anonyme Bestattungen wirklich nicht wünschen. Eigentlich müssten die Kerzen sofort weggeräumt werden.
Geske: Einige versuchen sich die Stelle zu merken, verlieren aber schnell die Orientierung. Auch in jungen Familien ist die anonyme Beerdigung ein Thema. Viele Menschen glauben, dass ein Grab nicht wichtig sei, weil sie den Verstorbenen in ihrem Herzen weiter tragen. Aber nach kurzer Zeit kommen die Probleme. Die Menschen brauchen einen Anlaufpunkt. Auf vielen anonymen Grabfeldern liegen ja, wie Herr Iking bereits angesprochen hat, Blumen, stehen Lämpchen.
Iking: Anonyme Gräber sind für den Bürger pflegeleicht. Wir fragen uns, wie kommen die Kommunen und die Kirchen zu den Gebühren? Wie rechnet sich das?
Christoph Reuter: Wir haben im Juni die neue Gebührensatzung für das Friedhofs- und Bestattungswesen der Stadt Brühl festgelegt, das sind ganz transparente Zahlen. Aber ich möchte etwas anderes ansprechen. Wir raten den Leuten, dass sie sich vorher erkundigen, wofür sie sich entscheiden. Jeder sollte sich das anonyme Grabfeld einmal ansehen. Wir versuchen zwar, es möglichst ansehnlich zu erhalten, aber das ist sehr schwierig, weil die Erde immer nachsackt. Es ist kein schönes Erscheinungsbild.
Iking: Der Dekanatsrat der Katholiken hat einen Brief an die Stadt geschrieben. Die Problematik besteht aus unserer Sicht darin, dass wir aus den Gesprächen mit den Angehörigen wissen, dass ein anonymes Grab häufig nicht gewünscht wird. Das Problem ist die Grabpflege. Viele wollen ihren Angehörigen nicht zur Last fallen. Sie haben Angst, dass sich keiner um das Grab kümmert. Unser Vorschlag ist, pflegefreie Gräber zu schaffen, wie es sie in Köln gibt.
Reuter: Aber auch das ist problematisch. Die Stadt Köln hat ein Grabkammersystem entwickelt, das sehr kostenintensiv ist. Es wurde auch noch nicht abschließend geklärt, ob die Verwesung darin stattfindet.
Michael Kurth: Wir wissen bereits, dass in Brühl eine Bürgerinitiative entstehen würde, wenn es zu einem Grabkammersystem kommen sollte, die ein Bürger bereits "Turbogräber" genannt hat. Die Bürger befürchten zum Beispiel Geruchsbelästigungen.
 
BBB: Was geschieht denn, wenn Menschen später erkennen, dass sie den Verstorbenen doch lieber nicht auf dem anonymen Grabfeld beerdigt hätten?
Kurth: Dann besteht die Möglichkeit einer Umbettung zum Beispiel in ein normales Reihengrab. Das ist auch schon oft vorgekommen. Ein Urnengrab kann auch komplett mit einer Platte abgedeckt werden und bedarf dann nur wenig Pflege. Wir kennen diese Problematik. Obwohl wir den Leuten vorher die verschiedenen Möglichkeiten aufzeigen, entscheiden viele so, dass sie es später wieder rückgängig machen wollen. Viele sind in ihrem Schmerz unmittelbar nach dem Tod eines lieben Angehörigen nicht aufnahmefähig.
Geske: Dabei fällt mir ein, dass viele Menschen sich daheim nicht die Zeit für einen Abschied nehmen, weil sie glauben, dass der Verstorbene sofort nach seinem Tod abgeholt werden muss. Tatsächlich bleiben dafür aber 36 Stunden Zeit.
 
BBB: Herr Iking, wie gehen Sie damit um, wenn Sie jemanden beerdigen sollen, der aus der Kirche ausgetreten ist?
Iking: Wir differenzieren bei Kirchenaustritten zwischen dem Verstorbenen und den Angehörigen. Wenn jemand aus der Kirche austritt, unterstelle ich dabei eine bewusste Entscheidung gegen die Kirche. Und diesen Willen gilt es dann zu respektieren. Aber oft wussten die Angehörigen gar nichts davon und wünschen eine Beteiligung der Kirche beim Begräbnis, weil sie für sich erkennen, dass es einen Wert hat. Manchmal ist es auch eine Kostenfrage. Ein Pastor ist günstiger als ein freier Grabredner.
 
BBB: Haben Sie feststellen können, dass Menschen, die keinen Bezug zum Glauben hatten, im Angesicht des Todes nun einen Halt im Glauben suchen?
Iking: Nein, Menschen, die gläubig sind, bleiben das auch in der Stunde des nahenden Todes. Und Menschen, die keinen Zugang hatten, können auch weiterhin schwer einen Sinn darin finden. Sie werden auch nicht mehr plötzlich gläubig. Eine Portion Religion kann man auch nicht einkaufen. Die Religion begleitet einen durch das ganze Leben. Der Versuch, auf die Religion zurückzugreifen, kann nicht fruchten, wenn es vorher keine Beziehung gegeben hat.
 
BBB: Worauf legen Sie bei Ihrer Predigt bei einer Trauerfeier am meisten Wert?
Iking: Ich sage verhältnismäßig wenig über die Verstorbenen. Jeder, der da bei einer Trauerfeier sitzt, verbindet etwas anderes mit den Verstorbenen. Jedes Wort könnte auf die Goldwaage gelegt werden. Manchmal kenne ich die Person, die beerdigt wird, nicht einmal. Ich versuche, eine Situation zu schaffen, die Leute bei ihren Gedanken und Gefühlen zu lassen. Ich spreche mehr zu dem Thema Hoffnung über den Tod hinaus. Ritus gibt Sicherheit in einer Situation der Angespanntheit, in der sich die Trauernden befinden. Wenn ich weiß, dass die Verstorbenen mit der Botschaft des christlichen Glaubens wenig anfangen konnten, tritt an die Stelle ein ausgestalteter Lebenslauf des Verstorbenen.
 
BBB: Herr Kurth, wie kommen Sie und ihre 15 Mitarbeiter damit zurecht, tagtäglich mit dem Tod konfrontiert zu werden?

Man ist privat nicht abgehärtet. Auf der Arbeit nimmt man es lockerer. Da gibt es schon eine Portion schwarzen Humor. Aber viele nimmt es mit. Es gibt Mitarbeiter, die es nicht schaffen und sich nach kurzer Zeit wieder in andere Abteilungen versetzen lassen. Für mich kann ich sagen, dass man bei der Arbeit nicht abstumpft.
Iking: Jede Bestattung ist anders, da kommt keine Routine auf. Es gab schon sehr trostlose Beerdigungen. Ich habe schon Menschen alleine mit einem Mitarbeiter des Friedhofs beerdigt und war dankbar dafür, dass jemand mitkam. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist nichts schlimmer als ganz allein zu sein. Gerade dann denke ich an den Menschen und frage mich, welche Geschichte wohl dahinter steckt. Wenn ich zum Beispiel einen Nichtsesshaften bestatte.
 
BBB: Welche Beerdigung ist Ihnen in Erinnerung geblieben, Herr Kurth?
Kurth: Früher gab es einmal eine prächtige Sinti-Bestattung mit einer großen, von vier Pferden gezogenen Kutsche. Aber das ist ja heute nicht mehr erlaubt. Ich weiß auch noch, dass in Schwadorf früher Hausbestattungen üblich waren. Die Trauergesellschaft zog damals vom Haus des Verstorbenen zum Friedhof los. Seit es dort eine Trauerhalle gibt, sind diese Zeiten aber auch vorbei.
 
BBB: Welche Vorschriften sind noch zu beachten, wann mussten Sie schon einmal einschreiten?
Kurth: Es gab schon kuriose Anfragen. Es wollten schon Menschen in ihrem Auto oder mit ihrem Motorrad beerdigt werden. Das geht natürlich gar nicht. In Deutschland besteht die Sargpflicht.
Iking: Ich finde ganz interessant, welche Trauermusik ausgesucht wird. Schon öfter wurden das bekannte Lied von Trude Herr "Niemals geht man so ganz" oder auch "Unser Herz schlägt für den FC Kölle" gespielt.
 

Das Gespräch führten Tobias und Alexander Gonscherowski