Zum Abitur der 15 Schüler des Jahrgangs 1910 - unter ihnen Max Ernst - erscheint im März die Bierzeitung "Aus unserm Leben an der Penne". Für diese Veröffentlichung und für mehrere Postkarten zeichnet der spätere Künstler, der laut Abiturzeugnis am Zeichenunterricht nicht teilgenommen hat, die Illustrationen, die zusammen mit den Texten den Schulalltag karikieren. In einem Abschnitt mit der Überschrift "Siegesallee", die auf die Berliner Siegesallee mit den Statuen der deutschen Kaiser anspielt, werden die 15 Abiturienten vorgestellt. Max Ernst zitiert aber nicht nur das Berliner Ensemble, sondern er reagiert auch ganz allgemein auf die seit dem Beginn des wilhelminischen Kaiserreiches inflationäre Tendenz an Denkmälern. Die Brühler Denkmal-Galerie des Abiturjahrgangs 1910, die sich in der Bierzeitung über vier Seiten erstreckt, eröffnet und beschließt Max Ernst mit ganzseitigen Standbildern, während auf der dazwischen liegenden Doppelseite links vier und rechts fünf gezeichnete Statuen gruppiert sind.
 
Das erste Standbild zeigt die Mitschüler Wilhelm Berghoff und Hans Oehmen auf einem gemeinsamen Sockel mit der Inschrift "Das edle Freundespaar"; beide umarmen sich, und der Rauch aus ihren Tonpfeifen umrahmt wolkig das Doppelporträt. Das Freundschaftsmonument ist in freier Variation über das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar gezeichnet. Das abschließende Denkmal ist dagegen Heinrich Mertens vorbehalten, dem Sohn des Gymnasialdirektors und Geschichtslehrers Martin Mertens. Die lateinisch gehaltene Beschriftung auf dem Sockel, der von vier sitzenden, weiblichen Figuren umgeben ist, lautet "Sohn des Jupiter, des Allergrößten", ergänzt um die griechische Unterzeile: "O Kind, wärest du dem Vater ähnlicher geworden, im übrigen aber gleich, Du wärest nicht übel." Heinrich Mertens, dessen Berufswunsch "Heeres-dienst" in seinem Abiturzeugnis vermerkt ist und den Max Ernst entsprechend mit der Pose eines Feldherrn charakterisiert, stirbt fünf Jahre später im Ersten Weltkrieg; zwei weitere Abiturienten von 1910, Franz Ricken und Johannes Thiebes, fallen ebenfalls in den ersten Kriegsjahren in Frankreich.
 
Sich selbst hat Max Ernst auf der mittleren Doppelseite dargestellt. Seine Porträtbüste ist auf ein dorisches Kapitell mit der Inschrift "Max Maria" postiert; ein Pinsel und eine übergroße Palette, von der die Farbe bereits wieder heruntertropft, charakterisieren ihn als Künstler. Ein Zitat von Wilhelm Busch ergänzt als Motto diese ironisch gebrochene Selbstüberhöhung: "Ein hoffnungsvoller junger Mann gewöhnt sich leicht das Malen an." Vorlage und Arbeitsstimulans zu diesem gezeichneten Künstlerselbstporträt bildet eine Aufnahme von 1909. Sie zeigt Max Ernst vor seiner Staffelei, umgeben von den Bäumen im Brühler Schlosspark. Auf seinem Karton hat er - in der Tradition von Freiluftmalern stehend - naturalistisch den Waldweg wiedergegeben. Der Achtzehnjährige blickt von der Arbeit auf und hält die gewohnten Attribute des Malers, mehrere Pinsel und eine Palette, in den Händen. Aus der fotografischen Vorlage übernimmt Max Ernst die Körperhaltung, ebenso das Dreiviertelprofil, den Hut, den hohen und steifen Kragen sowie das gepunktete Halstuch. Lediglich die Insignien des Malers bis hin zur Künstlermähne werden bewusst vergrößert. Nachahmung und Veränderung als Methode der künstlerischen Aneignung sind hier bereits angelegt und ein erstes Beispiel für die spätere, seit der Dada-Zeit grundlegende indirekte Arbeitsweise und umdeutende Sichtweise seines Werkes.
 
Dr. Jürgen Pech