Über 50 Jahre nach seiner Geburt erinnert sich Max Ernst 1942 im amerikanischen Exil an seine Jugendzeit im Rheinland, an seinen Aufbruch als Künstler. In seinem autobiographischen Text charakterisiert er für das Publikum der Neuen Welt besonders die sechs Meilen nördlich von Brühl gelegene Stadt Köln mit den folgenden Ausführungen:
 

Köln war früher eine römische Kolonie, Colonia Claudia Agrippina und später das bedeutendste Kulturzentrum des Mittelalters. Noch immer weht hier der Geist des prächtigen Magiers Cornelius Agrippa, der hier geboren wurde, und von Albertus Magnus, der in dieser Stadt lebte und starb. Die Gebeine von drei anderen Magiern, Kaspar, Melchior und Balthasar, den Weisen aus dem Morgenlande, ruhen im Kölner Dom. Jedes Jahr am 6. Januar wird ihr goldener, mit Juwelen geschmückter Schrein den Gläubigen gezeigt. 11.000 Jungfrauen gaben in Köln lieber ihr Leben als Opfer hin als ihre Keuschheit. Ihre zarten Reliquien schmücken die Wände der Klosterkirche in Brühl, von wo aus sie möglicherweise Max zu manchem verholfen haben, denn in dieser Kirche musste er manche lange Stunde seiner Jugend verbringen. …
 
Die geographische, politische und klimatische Lage von Köln mag dazu angetan sein, anregende Konflikte in einem sensiblen Kindergemüt zu erzeugen. Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströmungen: Frühe mediterrane Einflüsse, westlicher Rationalismus, östliche Neigung zum Okkultismus, nördliche Mythologie, preußischer kategorischer Imperativ, Ideale der Französischen Revolution und noch manches andere. All diese gegensätzlichen Tendenzen kann man in dem Ablauf des kraftvollen Dramas, das sich in Max Ernsts Werk abspielt, erkennen. Ob sich wohl eines Tages Elemente einer neuer Mythologie aus diesem Drama entwickeln?“
 
Mythen und Inszenierung
Mit diesen Textpassagen verweist Max Ernst – im melting pot“ New York angekommen – auf die kulturelle Vielfalt als Grundlage und Quelle für sein eigenes Werk. Aber während der Surrealist André Breton, der im Sommer 1941 ebenfalls in New York Zuflucht findet, in den Jahren des Zweiten Weltkrieges noch von der Notwendigkeit eines neuen Mythos“ spricht, verwebt Max Ernst bereits seine künstlerische Selbstdarstellung, die ihn als Zauberer, als Seher, als Magier und Weisen stilisiert, mit der Herkunft und den Erinnerungen aus der Jugendzeit. Eine alte Aufnahme vom Innenraum der katholischen Pfarrkirche Maria von den Engeln” belegt, dass früher in der Schloßkirche wirklich Gebeine zu sehen waren. Die beiden Nebenaltäre, die den Blick auf den Ciborienaltar von Balthasar Neumann, auf die Verkündigungsgruppe mit Maria und dem Engel und auf das von einem großen, kreisrunden Spiegel umgebene Auge Gottes lenkten und durch ihre Schrägstellung dem Chorraum eine wirkungsvolle Tiefe verliehen hatten, konnten nach der Kriegszerstörung nicht mehr wieder aufgebaut werden. Lediglich die Statuen des hl. Antonius und des hl. Bernardin von Siena zieren heute die Seitenwände des Kirchenraumes und erinnern an die ehemalige Position der reich verzierten Stuckmarmor-Altäre vor dem schmiedeeisernen Lettnergitter. Die beiden schrankartigen, nach vorne offenen Unterbauten der Seitenaltäre enthielten damals – akkurat über- und nebeneinander gestapelt – Armknochen, Beinknochen und Schädel, die von Max Ernst erwähnten zarten Reliquien“.
 
Dr. Jürgen Pech