Jahrgang 2006
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"Des kleinen Max erster Kontakt mit der Malerei ereignete sich im Jahre 1894, als er seinen Vater beobachtete, während dieser ein Aquarell, genannt "Einsamkeit", malte. Dargestellt war ein Mönch, in einem Buchenwald sitzend und ein Buch lesend. Es war eine erschre-ckend stille Atmosphäre in dieser "Einsamkeit", und in der Manier, in der sie ausgeführt war. Jedes der tausend Buchenblätter war ängstlich und minutiös gemalt, jedes von ihnen hatte sein eigenes individuelles Leben. Der Mönch war so unheimlich gefesselt von dem Inhalt seines Buches, daß er außerhalb der Welt zu leben schien. Selbst der Klang des Wortes "Mönch" ließ des Kindes Gemüt mit magischer Kraft erschauern. (Dasselbe ereignete sich in dieser Zeit bei ihm, wenn er die Worte "Struwelpeter" oder "Rumpelstilzchen" hörte). Max vergaß niemals das Entzücken und den Schauer, den er empfand, als sein Vater ihn einige Tage später mit in den Wald nahm. Man kann das Echo dieser Empfindungen in manchen Wald- und Dschungel-Bildern wiederfinden. (1925-1942)."
 
In den Erinnerungen von Max Ernst, die 1942 erstmals in einer amerikanischen Fassung unter dem Titel "Some data on the youth of M.E. As told by himself" veröffentlicht wurden, ist die erste und scheinbar für seine spätere Entwicklung ausschlaggebende Begegnung mit der Kunst an ein Waldbild des Vaters geknüpft. Das kleinformatige Aquarell, dessen geheimnisvolle Faszination der Künstler in seinem Text einfühlsam und atmosphärisch dicht beschreibt, wird gegenwärtig im Max Ernst Museum gezeigt. Der in seine Lektüre vertiefte Einsiedler ist - darauf weist der Text deutlich und unmissverständlich hin - in eine andere Welt eingetaucht. Der Eremit, der in seiner "Einsamkeit" zwei Welten angehört, veranschaulicht die Rückkehr zur Natur, zur Einfachheit, drückt gleichzeitig aber auch eine unergründliche Sehnsucht aus. Die Unendlichkeit der Natur, des Waldes, der Schöpfung umfängt ihn, der lesend - oder mit den Worten von Max Ernst "außerhalb der Welt" - zum Inbegriff des romantischen Lebensgefühls wird.
 
Genaue Kopie des Orginals
 
Die Kunsthistorikerin Karin von Maur konnte vor anderthalb Jahrzehnten darauf hinweisen, dass für das Bild des Vaters eine Kreidelithographie des Landschaftsmalers Eugen Krüger (1832-1876) als Vorlage diente. Die schwarz-weiße Graphik, die Philipp Ernst mit Aquarell farbig illuminierte, hat dieselben Maße, ist im Stein am unteren Rand links mit "E. Krüger" signiert und trägt den Titel "Waldeinsamkeit". Das von der rechten Seite einfallende Licht ist hier wesentlich intensiver eingesetzt und taucht den Mönch in eine strahlende Helligkeit, die seine Versunkenheit und sein Sein, seine Wirklichkeit in der Ewigkeit aufblitzen lässt.
 
In der deutschen Fassung der "Biographischen Notizen", die Max Ernst zwanzig Jahre nach der amerikanischen Version erheblich erweitert, aber auch variiert vorlegte, wird der Bezug zur Romantik deutlich zum Ausdruck gebracht: "Der Mönch von Heisterbach. Vater Philipp bei der Arbeit, ein Aquarell. Ein Wald, friedlich und doch beunruhigend, darinnen der Hermit. Alle Buchenblätter mit fast besessener Beflissenheit gemalt, ein jedes in seiner eigenen Alleinigkeit hartnäckig verschlossen; und doch einer Gemeinschaft unterworfen: der Buche, dem Wald. Der Mönch in sein Buch vertieft. So tief verbohrt, dass er selber kaum noch da ist. Nur das Buch, der Inhalt des Buches, ein Geheimnis, ein Nichts. Der kleine Max ist bestürzt. Was ist ein Wald? Gemischte Gefühle, als er zum ersten Mal den Wald betritt, Entzücken und Bedrückung. Und das, was die Romantiker "Naturgefühl" getauft haben. Die wunderbare Lust, frei zu atmen im offenen Raum, doch gleichzeitig die Beklemmung, ringsum von feindlichen Bäumen eingekerkert zu sein. Draußen und drinnen zugleich, frei und gefangen.
 
Wer soll das Rätsel lösen?
Vater Philipp?
Der Mönch von Heisterbach?
Oder er selber, der kleine Max?
 
Wie? Malen? Maler werden?"
 
Dr. Jürgen Pech
 

 

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